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Was hat gestern mit heute zu tun?

Ziemlich viel hat gestern mit heute zu tun. Vielleicht sogar alles! Wenn wir uns heute an nichts mehr erinnern könnten, wirklich an nichts, dann wäre unser Leben ganz schön leer. Wir bestimmen unser „Selbst“ und fühlen unser „Ich“ als Summe aller Erfahrungen und Erinnerungen, die wir bisher gemacht haben. Ich möchte kurz über meine Sicht zum „Ich-Empfinden“ referieren. Ich glaube, dass unser Hirn zu Beginn (noch vor der Geburt) ziemlich „leer“ ist. Das kann man mit einer kleinen leeren Festplatte vergleichen. Über die Zeit wächst diese Platte mit verschiedenen Partitionen und unzähligen Verbindungen.

Alles was wir sehen, hören, erleben, versuchen, schmecken, usw. wird dann in unserem Gehirn als Erfahrung abgelegt und bildet die Basis für unsere Ich-Empfindung. Wir spiegeln unser Umfeld (Stichwort Spiegelneuronen), kopieren, verknüpfen, bilden logische Schlüsse, beobachten Emotionen, bilden diese nach, empfinden unsere eigenen Emotionen und all dies wird irgendwie in unserem Gehirn abgelegt (vieles im „Unterbewusstsein“, im System 1, da dort die Speicherkapazität unbegrenzt ist; nur liegt es dort eher wie in einem chaotischen Lager, also weder chronologisch noch sonst irgendwie strukturiert und auch der Abruf der Informationen von dort ist meist unstrukturiert und intuitiv). Um es kurz zu halten: Ich glaube, dass das „Ich“, bzw. das „Ich-Empfinden“ nicht per se da ist, sondern sich dieses über die Lebenszeit bildet und die Summe der Erfahrungen und Empfindungen in unserem Gehirn die Basis dafür bildet. Unsere Erfahrungen und unser aktuelles Empfinden zusammen machen uns aus. Das macht unsere Realität aus. Unsere subjektive Realität.
Hinweis: Vieles von dem Angesprochenen, wie Realität, System 1 und 2, Unterbewusstsein usw. habe ich in meinen früheren Beiträgen ausführlich beschrieben.

Leben in Geschichten

Man könnte also sagen: Unsere Vergangenheit bildet die Leinwand auf dem der Film der Gegenwart läuft. Und die Leinwand kann einen großen Einfluss auf das Filmerleben haben.

Wenn wir also davon ausgehen, dass unser „Ich“ der Gegenwart auf den Erfahrungen der Vergangenheit basiert, dann frage ich mich, wie wir die Vergangenheit beurteilen. Und ist dies auch nachträglich beeinflussbar? Aber eines nach dem anderen.

Für mich ist es sehr interessant, dass die aktuelle Gegenwart und die aktuelle Empfindung häufig von der Erinnerung an dieses Ereignis zu einem späteren Zeitpunkt abweicht. Man spricht auch von der Verzerrung der Vergangenheit. Es gibt dazu viel interessante Literatur.

Verrücktes Experiment

Hier möchte ich auf ein spannendes Experiment verweisen, von dem ich zum ersten Mal in dem Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“ von Daniel Kahneman gehört habe. Das Experiment der kalten Hand. Ich gebe es aus dem Gedächtnis wieder, also möglicher weise etwas verzerrt 😉
Aber die Kernaussage treffe ich hoffentlich. Man hat Probanden zwei Versuche durchführen lassen:

  1. Zuerst wird eine Hand für 60 sec in ziemlich kaltes Wasser gesteckt, so dass es wirklich weh tut.
  2. Dann kommt die andere Hand für 60 sec in dieses kalte Wasser und verbleibt dort zusätzlich weitere 30 sec, während denen etwas wärmeres Wasser zufließt, so dass die letzten 30 sec mit weniger Schmerz verbunden sind.

Dabei spielt es keine Rolle, welche Hand zuerst genommen wurde. Die Gruppe war groß genug und wurde aufgeteilt, so dass jeweils ein Teil mit links bzw. rechts begonnen hat. Die Probanden wussten nichts vom Aufbau und den Zeiten und wurden nach einer kurzen Pause aufgefordert, eines der beiden Experimente noch einmal durchzuführen. Obwohl das Unwohlsein in beiden Versuchen in den ersten 60 sec gleich ist und dadurch Experiment 2), mit den zusätzlichen 30 sec, unter dem Strich aufsummiert mehr Schmerz und Unwohlsein verursacht, hat sich die deutliche Mehrheit der Versuchspersonen für dieses Experiment 2) entschieden, um dieses zu wiederholen. Spannend! Das liegt daran, dass mit Blick auf die Vergangenheit die zeitliche Dauer einer Empfindung gar nicht so entscheiden ist. Bei Schmerzen spielen v.a. die Höchstwerte einer Empfindung und noch wichtiger, die Endwerte, also das Ende einer Empfindung am stärksten mit, wenn es später um die Erinnerung geht.

Wie und warum das genau passiert kann ich nicht erklären, aber es gibt viele Studien und Experimente, die in diese Richtung empirische Beweise liefern. Ein einfaches pragmatisches Beispiel: Eine Beziehung die sehr schlecht endet wird im Nachgang häufig schlechter bewertet. Sagen wir z.B. nach fünf glücklichen Jahren in einer Beziehung und einem zusätzlichen Jahr absoluten Horrors – wie wird diese Beziehung von den Partnern nach einem Jahr Trennung bewertet? Glaubt ihr, dass da einer sagt: “5/6 der Zeit waren Weltklasse und nur 1/6 doof – unterm Strich eine tolle Beziehung!“ Ich glaube nicht….

Erinnerndes und empfindendes Ich

Mir geht es hier primär um den Fakt, dass unsere Erinnerung an die Vergangenheit, starken Einfluss auf unsere aktuellen Entscheidungen und unser aktuelles Wohlgefühl hat. Die Bewertung der Vergangenheit macht einen großen Teil unseres aktuellen „Ich-Empfinden“ aus. Wir sind quasi die Summe unserer erlebten Geschichten. Und wir wissen, dass wir diese Geschichten unserer Vergangenheit verzerrt wahrnehmen. Wir nehmen unsere Vergangenheit anders wahr, als wir diese Situationen im aktuellen Moment empfinden würden. Das ist doch verrückt! Wir wissen also, das unser erinnerndes „Ich“ zwar die Basis für das aktuelle „Ich“ bildet, dies aber eine Art ständiger Selbstbetrug ist.

Und jetzt?

Und was bringt uns diese Erkenntnis jetzt? Ich finde daraus lassen sich unendlich viele Konsequenzen ableiten. Es geht hier wieder um subjektive Realität und wie wir diese ggf. für uns und andere positiv beeinflussen können. Ich möchte einige Beispiele nennen:

  • Führungsverhalten: Die entsprechende Übermittlung des emotionalen Höchstwertes und Endwertes einer Botschaft an einen Kollegen, Mitarbeiter oder an den Chef, um diese Botschaft als Erinnerung für die Zukunft bestmöglich zu verankern und daraus ein gewünschtes zukünftiges Verhalten anzuregen. Wenn ich jemandem also kritisches Feedback geben möchte und damit auch wirklich etwas verändern möchte, dann sollte ich darauf verzichten, am Ende nochmal alles zu relativieren oder gar abzuschwächen (vgl. Feedback-Burger: Lob-Kritik-Lob). Gleiches gilt natürlich auch für Wertschätzung. Diese sollte man am Ende nicht abschwächen oder noch mit einer kleinen „Lektion“ abschließen, wenn man denn ernsthaft Wertschätzung ausdrücken möchte.
  • Führungsverhalten: Die Erinnerung eines Kollegen, Chefs, Mitarbeiters oder eine kollektive Erinnerung eines Teams erkennen und diese auch bewusst mit System 1 und System 2 zu reflektieren. Warum reagiert die/der/das Team so auf einen Vorschlag? Wie kann man evtl. durch kleine Veränderungen der Aussagen eine andere Erinnerung hervorrufen, mit der man „besser“ arbeiten kann? An positive Erinnerungen kann man viel besser anknüpfen als an negative Erfahrungen.
  • Selbstführung: Reflexion der eigenen Erinnerung, v.a. mit System 2, also dem logischen und rationalen Teil unseres Gehirns. Dazu braucht man ggf. auch Unterstützung durch Notizen, Statistiken etc.; Man kann sich dann Fragen nähern, wie: Warum esse ich immer wenn… Warum werde ich laut wenn… Warum höre ich nicht mehr zu wen… Welche Erfahrungen der Vergangenheit haben mich so konditioniert, wie ich jetzt bin? Was kann ich vielleicht ändern? Wie möchte ich die aktuelle Erfahrung später erinnern? Soll ich das Ende des aktuellen Vorgangs vielleicht besonders positiv abschließen, auch der späteren Erinnerung wegen?
  • Hypnose als Therapie: Hypnosetherapie als Hilfe, um Erinnerungen aus der Vergangenheit nochmals zu durchleben. Dabei kann man den Höchstwert und Endwert ggf. anders verarbeiten, um etwas abzuschließen, um etwas zu bearbeiten, um etwas umzudeuten, in einen anderen Kontext zu setzen oder um andere Perspektiven einzunehmen. All dies kann man machen, um so die bestehenden Konsequenzen aus der Erinnerung abzuändern und so positiv auf die Gegenwart Einfluss nehmen.

Nimm es in die Hand

Abschließend bleibt vielleicht zu sagen: Gestern hat viel, vielleicht sogar alles mit heute zu tun! Und heute ist das gestern von morgen. Also lebt im hier und jetzt und seid euch bewusst, dass dennoch alle Zeitpunkte in eurem Gehirn im Unterbewusstsein miteinander verknüpft werden. Und wenn mal was schief gelaufen ist, dann gibt es Gedankentechniken, die helfen können, auch das eine oder andere im Nachhinein zu reparieren oder zumindest sauber abzuschließen. Ich freue mich natürlich, wenn ihr dazu einen Hypnotiseur aufsucht 😉

2 Antworten auf „Was hat gestern mit heute zu tun?“

Christian, mal wieder ein toller Artikel mit hilfreichen und praxisrelevanten Beispielen. Interessanter Aspekt der Gedankentechniken, dass man negative Situationen ausblenden bzw. mental im Nachhinein noch drehen kann. Und das Beste daran ist: Das Hirn merkt es nicht. Schließt sich direkt die Frage an: Wenn das Hirn es nicht merkt, inwiefern lässt sich unser Umfeld auf entsprechende, nachgelagerte – ich nenne es mal – Manipulation der Wahrnehmung ein?

Hallo Sebastian, Danke für deine sehr gute Frage. Diese „Manipulation“ kommt natürlich häufig vor. Ich sehe das gar nicht negativ. Jeder hat es in der Hand, dies zuzulassen oder eben nicht. Das hat viel mit Achtsamkeit und Macht zu tun. Lassen wir es zu, dass jemand oder etwas Macht über uns hat? Dazu habe ich auch einen Blog geschrieben (1.2.20). Ich lasse mich auch täglich beeinflussen und somit manipulieren. Beispiele? Wenn meine Kinder, meine Frau, meine Kollegen oder Freunde mir von einem gemeinsamen Erlebnis berichten und wie toll sie das fanden, dann kann das auch meine Perspektive und Erinnerung verändern. Ich selbst hatte das Erlebnis vielleicht gar nicht als so überragend abgespeichert. Das funktioniert natürlich in alle Richtungen. Auch die Werbung versucht ständig unsere Erinnerungen zu manipulieren. Und sobald ich ein grünes Segelschiff sehe, erinnere ich mich, dass ich plötzlich Bier trinken will 😉

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